Freiwilligendienst
 
 

„Ja, ich habe sie noch alle!“
Von Wiebke Paulsen
 
”Hilfe! Mascha schluckt den Brei nicht hinunter, sondern spuckt ihn immer wieder aus.“ Mascha ist schwerstmehrfachbehindert. Von morgens 8:30 Uhr bis 15:00 Uhr verlebt sie ihren Tag in der Klasse der kleinen Kinder im Heilpädagogischen Zentrum (kurz HPZ) in Pskow. Hier, 300 km südwestlich von St. Petersburg, absolviere ich im HPZ ein Freiwilliges Soziales Jahr. 46 schwerstmehrfachbehinderte Kinder werden hier gefördert und betreut.
Ich soll Mascha füttern und bin damit in den ersten Tagen heillos überfordert. Warum behält sie nicht alles im Mund? Was heißt Brei auf russisch? Wie erkläre ich den Betreuern, dass sie nicht alles bei sich behält? Luda - eine russische Mitarbeiterin sieht, welche Schwierigkeiten ich habe, dieses elfjährige Mädchen zu füttern.  Sie sagt mir langsam und deutlich auf Russisch, dass es völlig normal ist, wenn Mascha beim Schlucken die Hälfte wieder aus dem Mund läuft. Mascha hat unter anderem starke Spastik und sitzt im Rollstuhl.
 
"Russland? Hast du sie noch alle? Und dann auch noch Schwerstbehinderte?!“ So reagierten die meisten meiner Freunde und Bekannten, als ich ihnen im Sommer 2002  von meinen Plänen erzählte, für ein knappes Jahr nach Russland zu gehen. Als ich mein Abitur machte, wollte ich nicht gleich studieren, ich wollte neue Erfahrungen sammeln, in einer anderen, östlichen Kultur. Alle zieht es in die USA, aber was ist mit unseren Nachbarn im Osten? Russland, Land, Leute, Kultur und Sprache waren das, was mich reizte.
Als ich im Oktober 2002 mein Freiwilliges Soziales Jahr hier im russischen Pskow begann, war jeder Tag eine Herausforderung! Das Füttern von Mascha ist nur eine von vielen. Die Sprache, die Kultur, die Menschen, die Landschaft, der Alltag - alles ist neu und anders. Ich kannte Russland nur aus den – längst nicht immer positiven – Schilderungen von Freunden und Verwandten. „Die Russen trinken immer Wodka, sind immer besoffen und unfreundlich. Der Lebensstandard dort ist eine Katastrophe. Gerade in der Provinz ist die Versorgung unzureichend, krank werden darfst Du nicht, Du siehst vor lauter Schlaglöchern gar keine Strasse mehr usw.”  Mut machte das nicht gerade.
 
...und dann auch noch Behinderte. Schwerstmehrfachbehinderte Kinder. All das waren für mich bis zu diesem Zeitpunkt Fremdwörter. Ich hatte höchstens mal auf der Strasse welche gesehen! Würde ich es schaffen, mit ihnen zu arbeiten oder mich mit Grauen abwenden?
 
Russisch für den Alltag
Während ich mich auf die Behindertenarbeit nicht vorbereiten kann, soll ein Crashkurs in Russisch den sprachlichen Anfang erleichtern. Im HPZ ist die Verständigung von Beginn an relativ problemlos, da viele der Mitarbeiter Deutsch können. In der Stadt, beim Einkaufen und täglichen Leben ist es schon schwieriger: Ich steige in den Bus ein und suche nach einem Fahrkartenautomaten. Gibt es nicht. An der Bushaltestelle war doch aber auch keiner. Hm. Ich würde gerne den Busfahrer fragen, aber auf Russisch? Also setze ich mich hin. Eine ältere Frau geht durch den Bus und nuschelt irgendwas vor sich hin. Ich verstehe es nicht. Hilfe, eine Kontrolleurin? Sie kommt immer näher. Im Kopf rücke ich mir schon mal zurecht, wie ich sage, dass ich Ausländerin bin und nicht weiß, wie das mit dem Fahrkartenkaufen hier funktioniert. Die Frau steht vor mir, nuschelt wieder dasselbe und wartet. Vier Rubel, sagt sie, will sie für die Fahrkarte haben. Die gebe ich ihr, bekomme ein Zettelchen in die Hand gedrückt und – puh – habe es geschafft!
Inzwischen klappt es mit dem Russischen immer besser. Dank Vadim, einem Dozenten für Russisch, begreife ich auch die schwierigen Kapitel der russischen Grammatik. Das Verstehen und Sprechen wird schon durch die tägliche Übung von Tag zu Tag besser, zumal die Russen sehr verständnisvoll sind.
 
Behindert?
Auch mit den Behinderten umzugehen ist für mich eine Selbstverständlichkeit geworden. Heute nehme ich gar nicht mehr wahr, dass Mascha körperlich und geistig behindert ist, Mascha ist Mascha und sie ist so, wie sie ist!  Mascha und ich - wir sind richtig gute Freunde! Sie lacht und verkrümmt sich vor lauter Freude, wenn ich sie morgens begrüße und frage, wie es ihr geht. Antworten kann sie nicht, denn auch ihr Sprachzentrum ist nicht richtig ausgeprägt. Inzwischen habe ich diese Kinder schätzen und lieben gelernt. Ob ich mit Sascha (seine Diagnose lautet „schwerstmehrfache geistige Behinderung“, organische Störungen im Gehirn) im Ballbecken liege oder mit Andrej (er hat das Down -Syndrom) male, die Kinder sind für mich inzwischen „normal“, nur anders.
 
Vorurteile über ”die Russen” haben sich nicht bewahrheitet.
Obwohl der Lebensstandard unter dem der Deutschen liegt – eine Mitarbeiterin aus dem HPZ z.B. lebt mit ihrer vierköpfigen Familie in einer 2 Zimmer Wohnung, und das ist hier durchaus normal – teilen die Russen alles, was sie haben und zeigen eine große Gastfreundschaft und viel Interesse. Meine Freunde und deren Familien laden mich zu Ihnen nach Hause ein, tischen ein riesengroßes Essen auf und fragen mich über Deutschland aus. All diese vielen wunderbaren, interessanten und auch unerwarteten Erfahrungen geben mir manchmal das Gefühl, in den letzten vier Monaten bereits mehr gelernt zu haben als in meiner gesamten Schulzeit!
 
Was ist normal?
 Habe ich vor einem Jahr noch die Schulbank gedrückt und mich mit linearer Algebra, Erkenntnistheorie oder Goethes „Werther“ herumgeschlagen, so beschäftige ich mich hier täglich mit behinderten Kindern, die mich viel zum Nachdenken bringen. Zum Beispiel, was „normal“ ist und was nicht. Und wer legt das fest? Wir, die „Normalen“? Aber auch die Tatsache, dass der Ort, wo wir geboren werden, sehr viel über die Möglichkeiten und Zukunft festlegt. Während meines einjährigen Schüleraustausches in Kanada vor drei Jahren hatte ich eine taubstumme Freundin aus Australien in meiner Schule. Auch Austauschschülerin! Und hier in Russland? Da kann man schon von Glück reden, dass die Kinder so eine Möglichkeit wie das HPZ haben, denn die anderen behinderten Kinder sitzen zu  Hause  oder  landen in so genannten Heimen oder auch Aufbewahrungsanstalten ohne jede Chance auf Entwicklung.
 
Toleranz lernen
Die Erfahrung, in einem Land zu leben ohne die Sprache zu können, hat mich insgesamt toleranter gemacht. Auch gegenüber Ausländern in Deutschland und ihren Schwierigkeiten, sich zu integrieren. Am Anfang war es nicht immer einfach, nichts zu verstehen. Zum Beispiel, wenn ich Gabeln und Messer aus der Küche holen soll, und es viel länger dauert, mir die Vokabeln zu erklären, als selbst eben in die Küche zu gehen. Ich passe mich an die anderen Sitten hier im Land an, die manchmal - eine leise Kritik - doch noch aus sozialistischen Zeiten zu stammen scheinen. Beispiel Bahnhof: Als Ausländerin muss ich die Fahrkarten an einem extra Schalter kaufen. Leider spricht die Frau, die am Ausländerschalter sitzt, kein Wort einer anderen Sprache. Ich stottere mir etwas zusammen, bis ich mein Ticket bekomme. Keinerlei Hilfe ihrerseits. Dient der Ausländer-Fahrkartenschalter mehr der Kontrolle von Ausländern, als einem wahren Service für ausländische Gäste? Doch inzwischen verstehe ich fast alles und so nehme ich auch die Bürokratie am Schalter inzwischen beinahe mit russischer Gelassenheit.
 
Vorurteile auch auf russischer Seite
Mit meinen Freunden werden die Themen dank meinem wachsenden Wortschatz immer größer und vielfältiger. Ein Thema allerdings ist und bleibt schwierig. Deutschland ist für sie das Paradies! Meine russischen Freunde glauben, wir hätten dort alles und könnten uns alles leisten.  Tanja sagt: „Ihr in Deutschland lebt, wir in Russland existieren.“ Auch wenn ich versuche, ihnen zu vermitteln, dass es auch in Deutschland Armut gibt, machen mich ihre Ansichten nachdenklich. Ich sehe meinen deutschen Alltag mit anderen Augen. Im Vergleich zu Russland können wir uns eigentlich nicht über unser Gesundheitssystem oder die Arbeitslosigkeit beschweren. Wie sagte ein Russe zu mir?! „ Die russische Gesellschaft ist viel weniger homogen als die Deutsche. Hier sind die Schlauen noch viel Schlauer, die Bösen noch böser, die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer!“ Ich stimme ihm zu. Es ist schockierend und auch faszinierend zu sehen, mit welchen geringen Verdiensten die Familien hier auf engem Raum zusammenleben und trotzdem sehr fröhlich und glücklich sind!
 
Wie fragten meine Freunde und Bekannten? „Hast Du sie noch alle, nach Russland zu gehen?!“ Nach vier Monaten in Pskow kann ich sagen: „Ja, ich habe sie noch alle!“ Ich möchte keinen Tag hier missen! 


 
Infos Freiwilligendienst im HPZ Pskow 
 


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InteressentInnen für einen Freiwilligendienst werden gebeten, sich zu melden bei der
Arbeitsstelle Auslandsfreiwilligendienste der Evangelischen Kirche im Rheinland
Hackhausen 5b
42697 Solingen
0212 / 2 22 01- 380
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www.aktiv-zivil.de

.Freiwillige Monique Pisters
 

 
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